Den Tag, der alles veränderte, wird der Boxer Oleksandr Usyk nie vergessen.
«Es war der zwölfte Geburtstag meiner Tochter und natürlich habe ich geweint», sagte Usyk. Es waren keine Tränen der Rührung über die kleine Jelisaweta. Es waren Tränen des Entsetzens und der Hilflosigkeit. Es war der 24. Februar – und Russland hatte mit der Invasion von Usyks Heimatland Ukraine begonnen.
WM-Fight gegen Joshua
Wenn der Schwergewichts-Weltmeister nun am Samstagabend gegen den Briten Anthony Joshua in den Ring steigt, ist dies mehr als ein Boxkampf. Es geht um Hoffnung für die Menschen in der Heimat, die das Duell kostenlos sehen können. Es geht um ein Zeichen der Freiheit, das die ganze Welt sehen soll. «Boxen ist ein Kinderspiel im Vergleich zum Krieg. Krieg ist Überleben», sagte Usyk.
Man kann den unglaublichen Druck und die womöglich noch größere Motivation des 35-Jährigen nur erahnen. Es wird auch ohne die auf dem Spiel stehenden WM-Gürtel der wichtigste Kampf seines Lebens. Usyk ist Botschafter seiner Heimat, ein Botschafter des Friedens. In den vergangenen Wochen zeigte er sich immer wieder in blau-gelben T-Shirts mit dem Aufdruck «Farben der Freiheit». Zur Abschluss-Pk erschien er im traditionellen Kosaken-Gewand und sang am Ende ein ukrainisches Widerstandslied.
Usyk hat den Überfall Russlands als Augenzeuge miterlebt. Der Superstar meldete sich beim Freiwilligen-Bataillon der ukrainischen Armee, ging in Kiew auf Patrouille. «Ich habe jeden Tag darum gebetet, dass mich niemand tötet und dass ich auf niemanden schießen muss», sagte Usyk. Als er verletzte Soldaten auf einer Krankenstation besuchte, änderte sich sein Blickwinkel. Seine Kameraden ermutigten ihn, die Heimat zu verlassen und wieder in den Ring zu steigen. Damit würde er der Ukraine mehr helfen. Auch die früheren Weltmeister Vitali und Wladimir Klitschko wirkten so auf Usyk ein.
Ende März reiste er mit einer Sondergenehmigung nach Polen aus. Usyk hatte nicht nur ein Ziel vor Augen, sondern endlich auch Antworten auf die Fragen seiner drei Kinder. Die wollten von ihrem Papa wissen, warum jemand sie töten wolle. «Ich erkläre ihnen dann, dass die Russen das wollen, weil sie schwache Menschen sind», sagte Usyk. «Und das ist auch der Grund, warum sie den Krieg nicht gewinnen werden. Wir sind stärker als sie.»
Usyks Geschichte ist auch die eines Vertriebenen. Auf der Krim geboren und aufgewachsen, verließ er die Halbinsel nach der russischen Annexion 2014 und zog nach Kiew. Nach dem Einmarsch Ende Februar brachen die Russen in sein Haus in Worsel nordwestlich der Hauptstadt ein und nutzten es kurzzeitig als Operationsbasis. Momentan wird es wieder aufgebaut. «Alles wird gut», betonte Usyk.
WM-Kampf auf Usyks YouTube-Kanal
Um seinen Landsleuten ein wenig Ablenkung vom Alltag und Freude zu schenken, setzte Usyk alles daran, die TV-Rechte für den Rückkampf gegen Joshua für die Ukraine zu kaufen. «Am Ende bekam er die Rechte sogar geschenkt», sagte sein Promoter Alex Krassjuk. Der Kampf wird im staatlichen Fernsehen, auf Usyks YouTube-Kanal sowie auf der Streaming-Plattform Megogo gratis zu sehen sein. «Das ist großartig und zeigt meine Verbindung zur Ukraine. Das wird mich inspirieren» sagte Usyk.
Sportlich gilt er ohnehin als Favorit, nachdem er Joshua im vergangenen September eine boxerische Lehrstunde verpasst und als Titelträger der großen Verbände IBF, WBA und WBO sowie der kleineren IBO entthront hatte. Joshua wird gegen Usyk einen K.o. brauchen, doch der hat alle seine 19 Kämpfe gewonnen. Der langjährige Cruisergewichts-Weltmeister Usyk boxt erst seit knapp drei Jahren im Schwergewicht.
Thematisch ist Krieg in der Ukraine so groß, dass der Ort des Kampfes nur eine Nebenrolle spielt. Das als «Rage on the Red Sea» vermarktete Duell steigt im saudi-arabischen Dschidda und ist Teil der Sportswashing-Kampagne des wegen einer Vielzahl an Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehenden Königreiches. Die Kämpfer sollen angeblich je 50 Millionen Dollar für den Fight bekommen. Usyk selbst hat sich zu diesem Thema noch nicht geäußert. Die Frage eines Guardian-Journalisten ließ er kürzlich mit dem Hinweis unbeantwortet, zum Training zu müssen.
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